Zur Vergleichbarkeit von COVID-19 und „Grippe“

Noch immer kann man auch in juristischen Diskussionen dem angeblichen Argument begegnen, COVID-19 sei ebenso harmlos wie „die Grippe“. Und ja: Eine Ausprägung „der Grippe“ hat etwas mit COVID-19 gemeinsam. Aber die Gemeinsamkeiten sind so dünn, dass der Vergleich bestenfalls hinkt und überhaupt ist erst einmal zu klären, was mit „Grippe“ gemeint ist. Denn die deutsche Sprache vermengt unter diesem Begriff zwei Krankheitsbilder, die sich grundlegend unterscheiden – und seine harmlose Variante lässt sich gerade nicht mit COVID-19 vergleichen.

1. „Die Grippe“ als grippaler Infekt

Wer Husten, Schnupfen, Heiserkeit, allenfalls noch mit leicht erhöhter Temperatur und Kopf-und Gliederschmerzen erleidet, hat sich vermutlich mit einem der ca. 300 Humanviren infiziert, die das umgangssprachlich als Erkältung bezeichnete Krankheitsbild auslösen können. Es führt, nur vorübergehend, zu den allseits bekannten Beschwerden, aber kaum jemals zu lebensbedrohlichen Zuständen. Es bedarf in der Regel keiner aufwändigen medizinischen Behandlung und verschwindet nach ein paar Tagen Schonung oft von alleine.

Diese Erkrankung lässt sich NICHT mit COVID-19 vergleichen.

2. Die von Influenza-Viren ausgelöste echte Grippe

Anders die echte Grippe. Sie wird von Influenza-Viren ausgelöst und, wie die Statistiken seit Jahren zeigen: Man kann daran sterben. U.a. aus diesem Grund kann man sich auch seit langem dagegen impfen lassen. Und weil sich auch die Influenza-Viren, wie Viren dies so an sich haben, immer wieder verändern, wird auch der Impfstoff immer wieder angepasst – und man muss sich, wenn man einen wirksamen Schutz aufrechterhalten will, regelmäßig neu impfen lassen.

Weil Influenza-Viren, wenn sie sich massenhaft verbreiten, zu einer Epidemie führen können, besteht für sie schon seit langem eine Meldepflicht nach dem deutschen IfSG.

Nur diese Erkrankung kommt daher überhaupt als Vergleichsgröße für COVID-19 in Frage.

3. Lässt sich COVID-19 mit der echten Grippe vergleichen?

Die durch einen speziellen Virentyp verursachte Gefahrenlage ist hochkomplex. Sie wird anhand vieler Parameter beeinflusst und daher auch durch eine Vielzahl von Parametern beschrieben. Hierzu gehören etwa die Empfänglichkeit des Wirts für das Virus (d.h. seine Infizierbarkeit); die Art der Virusübertragung von Wirt zu Wirt; die Wege, auf denen sich das Virus ausbreitet, etc.

Will man zwei virusbedingte Gefahrenlagen vergleichen, bringt dies also die Notwendigkeit mit sich, alle diese Parameter miteinander zu vergleichen. Dieser Vergleich ist aus mehreren Gründen anspruchsvoll: Unterschiedliche Viren werden durch unterschiedliche Parameter beschrieben. Ein direkter Vergleich ist daher oftmals gar nicht möglich, weil Virus A jedenfalls teilweise durch andere Parameter beschrieben wird als Virus B. Aufgrund der großen Anzahl unterschiedlicher Parameter gibt es somit auch kein einfaches „Gesamtbild“ von Virus A, das sich mit dem von Virus B unmittelbar vergleichen liesse.

Einen Überblick über wichtige Parameter, mit denen das SARS-CoV-2-Virus beschrieben wird, findet sich in seinem Steckbrief. Einige Erklärungen des hierzu verwendeten Vokabulars lassen sich im Fachwörterbuch Infektionsschutz und Infektions­epidemiologie finden.

4. Der hinkende Vergleich von COVID-19 mit der echten Grippe

Vor diesem Problem stand die WHO schon zu Beginn der Pandemie, als der hinkende Vergleich zwischen „Grippe“ und COVID-19 aufkam. Sie begegnete ihm mit der Veröffentlichung allgemeinverständlicher Informationen. Darin beschrieb sie u. a. folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der echten Grippe und COVID-19:

Gemeinsamkeiten

Die von beiden Viren ausgelösten Krankheiten haben ein teilweise ähnliches Erscheinungsbild, das man grob als „Atemwegserkrankungen“ beschreiben kann. Diese zeigen sich in einem weiten Spektrum von beschwerdefreien (asymptomatischen) oder leichten bis hin zu schweren Verläufen, bei denen es auch zu Todesfällen kommen kann.

Sowohl die Influenza-Viren wie auch das neue SARS-CoV-2-Virus werden auf ähnlichen Wegen (z. B. Tröpfcheninfektion) von Mensch zu Mensch übertragen. Daher sind auch in beiden Fällen dieselben Hygienemaßnahmen sinnvoll.

Unterschiede

Abgesehen von diesen wenigen Gemeinsamkeiten wies die WHO u. a. darauf hin, dass die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einen weitaus aggressiveren epidemischen Verlauf erwarten ließ als die bisherigen Influenza-Pandemien. Dies zeige sich signifikant an der viel höheren Basisreproduktionszahl (teilweise weit > 2 im Unterschied zu 1,2 bei der echten Grippe). Die Reproduktionszahl charakterisiert die Ausbreitung des Virus. Bei R=2 verdoppelt sich die Anzahl der Infizierten permanent, wächst also exponentiell (der Zeitraum, in dem diese Zunahme erwartet wird, ist ein weiterer wichtiger Parameter zur Beschreibung einer Epidemie).

Wer sich diese Dynamik vor Augen führen möchte, findet sie z.B. in der Legende vom Erfinder des Schachspiels versinnbildlicht: Als er gefragt wurde, welchen Lohn er sich für die Erfindung dieses Spiels wünsche, antwortete er: ein Getreidekorn auf dem ersten Spielfeld, zwei auf dem zweiten, vier auf dem dritten, acht auf dem vierten, 16 auf dem fünften, usw.

Diese so simpel anmutende Vorgehensweise führt dazu, dass am Ende etwa 1000 mal mehr Getreide auf dem Schachbrett liegen müsste, als die gesamte Weltproduktion derzeit hergibt. Zur Verdeutlichung schaue man sich das praktische Beispiel mit Reiskörnern an.

Neben der höheren Ausbreitungsrate erwartete die WHO für COVID-19 auch eine deutlich höhere Sterberate.

Weitere Unterschiede

Influenzaviren gehören zur Klasse der Orthomyxoviren, SARS-CoV-2 stellt einen gänzlich neuen Subtyp von bis dato sieben bekannten humanen Coronaviren dar. Beide Virenklassen unterscheiden sich in ihrer molekularen Struktur. Auch deshalb lassen sie sich nur schlecht miteinander vergleichen. SARS-CoV-2 weist innerhalb der Klasse der Coronaviren molekulare Besonderheiten auf. Bereits allein aus diesem Grund war von diesem Virus ein anderes Verhalten zu erwarten, als von den bisher bekannten Corona-Viren.

Diese Neuheit des SARS-CoV-2-Virus hat weitere Unterschiede zur Folge: Während der Mensch viele Jahrzehnte Zeit hatte, sein Immunsystem im Hinblick auf Influenza-Viren und auch auf die schon lange bekannten Coronaviren zu trainieren, fehlt uns allen eine solche „Vorbereitung“ auf SARS-CoV-2. Und nicht nur das menschliche Immunsystem war unvorbereitet: Wie gesehen, war es auch die Pharmaindustrie. Nicht nur Impfstoffe mussten neu entwickelt werden. Auch die Infektionskrankheit COVID-19 lässt sich bisher kaum behandeln, auch wenn an neuen Mitteln geforscht wird.

Darüber hinaus ergeben sich mit dem bisher kaum erforschten Krankheitsbild des Post- bzw. Long-COVID-Syndroms noch weitgehend unbekannte Spätfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion.

Nach alledem war davon auszugehen, dass eine weitgehende Ähnlichkeit zwischen der echten Grippe und COVID-19 gerade nicht angenommen werden konnte. Diese Einschätzung wurde mittlerweile auch von den Pathologen bestätigt, die verstorbene COVID-19-Erkrankte autopsiert haben. Ihnen zeigten sich einerseits massive Beeinträchtigungen der Lunge, die dazu führen, dass Patienten auch durch eine künstliche Beatmung oft nicht mehr geholfen werden kann. In den Worten eines Arztes: „Man kann dem Patienten so viel Sauerstoff geben, wie man will, der wird dann einfach nicht mehr weiter transportiert“ [1].

Darüber hinaus kamen die Pathologen zu dem Ergebnis, „dass SARS-CoV-2 nicht nur Schädigungen der Lungen verursacht, sondern auch andere Organsysteme betrifft und daher mitnichten mit einem normalen Grippevirus gleichgesetzt werden kann“ [2].

[1]So der Leiter der Autopsie am Universitätsspital Basel, Alexander Tzankov, zitiert nach Ärzteblatt.de vom 22. April 2020
[2]Statement des Bundesverbands Deutscher Pathologen e.V. vom 20. August 2020, veröffentlicht in: Bundesverband Deutscher Pathologen e.V., Deutsche Gesellschaft für Pathologie e.V., Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie e.V., Pressemappe vom 20.08.2020, Blatt 10