Wie das Recht die Chemie formt

#=========================== Die Alkali-Akte von 1863 ===========================#

Die Agenda der Naturwissenschaften

Die modernen Naturwissenschaften fußen auf dem Konzept der maximalen Zerlegung. Nach ihrer Auffassung lässt sich alles, was für den Menschen von Interesse ist, am besten dadurch verstehen, dass man es als kleinstmögliche Portionen abstrakter und unveränderlicher Materie begreift.

Diese Idealisierung entstand bei den Atomisten der griechischen Antike. Und als im ausgehenden 18. Jahrhundert die ersten chemischen Elemente identifiziert wurden, glaubte man, das angestrebte Maximum der Zerlegung erreicht zu haben (bis heute sind die Elemente als das definiert, was sich mit den Methoden der Chemie nicht weiter zerlegen lässt).

Ursprünglich verstand sich die Naturwissenschaft Chemie daher als Scheidekunst, was sich früher auch in den Namen einzelner Unternehmen widerspiegelte, z. B. Degussa.

Auch wer nur A will, bekommt stets B

Die Methodik der Zerlegung führt freilich dazu, dass bei jeder Trennoperation mindestens zwei Komponenten entstehen. Wer AB trennt, bekommt immer A und B, auch wenn er nur an einem von beiden interessiert ist. Seit Anbeginn der angewandten Chemie führt dieser sogenannte Zwangsanfall zu Problemen. Und so, wie mit der einsetzenden Industrialisierung die chemische Produktion wuchs, wuchsen auch diese Probleme.

Beginn von Chemie und Umweltzerstörung in industriellem Ausmaß

1789 zerlegte der französische Chirurg Nicolas Leblanc Meersalz. Dabei gelang ihm die Herstellung desjenigen Stoffes, den die Glas- und Seifenindustrie, vor allem aber die expandierende Textilindustrie in immer größeren Mengen verlangte: künstliche Soda. Jahrzehntelang hatten Forscher intensiv aber vergeblich nach einem industriellen Verfahren zur Herstellung dieses Stoffes gesucht. Die Académie des sciences und die Royal Society hatten ihrerseits ebenso erfolglos versucht, die Entwicklung eines solchen Verfahrens mit der Auslobung eines Preisgelds zu beschleunigen. Die Aussicht auf diesen Preis, den er letztlich aber nie bekommen sollte, ließ Leblanc von der Chirurgie zur Chemie wechseln.

Im Leblanc-Verfahren, das den Beginn der industriellen anorganischen Chemie markiert und das für nahezu 100 Jahre zum weltweiten Standardverfahren zur Soda-Produktion wurde, fallen neben der Soda aber auch weitere Stoffe an. Einer davon ist das stark ätzende Chlorwasserstoffgas. Da an diesem Gas kein wirtschaftliches Interesse bestand, tat man wenig, um es in den Fabriken zu halten. Man ließ es einfach in die Umgebung entweichen. Dort verätzte es alle Organismen.

In den Ländern der boomenden jungen Textilindustrie, vor allem in Frankreich und England, führte dies zu unerträglichen Zuständen mit massiven Schäden an Menschen, Tieren und der Umwelt. "Die Alkali-Industrie formte die britische und franzöische Landschaft in einer Art, die man noch heute sieht"[1]. Und viele der Menschen, die seinerzeit dort arbeiteten, zunächst vor allem Männer, später aber auch Frauen und Kinder, "mußten sich übergeben, wurden ohnmächtig und mußten aus dem Werk an die Luft getragen werden"[2].

Beginn des modernen Umweltrechts

Im 19. Jahrhundert breitete sich die Soda-Produktion und mit ihr das ätzende Chlorwasserstoffgas über immer größere Landstriche aus. Der Gesetzgeber des viktorianischen Englands, damals der weltweit führende Produktionsstandort für künstliche Soda, reagierte darauf als erster.

Mit der Alkali Akte vom 28. Juli 1863 definierte er den Begriff des Alkali-Werks (jedes Werk, das Alkali, Soda oder Pottasche herstellt) und erließ eine Registrierungspflicht für diese Werke. Er verfügte, dass mindestens 95 % des dort entstehenden Chlorwasserstoffgases kondensiert, d. h. mithilfe von Wasser eingefangen werden müsse. Die Beweispflicht für die Einhaltung der Vorschriften erlegte er den Werksbetreibern auf. Zur Überwachung der Vorschriften waren Inspektoren einzusetzen, die selbst keine Interessen in diesen Industriezweigen verfolgen durften. Zuwiderhandlungen wurden mit empfindlichen Geldstrafen geahndet, für die in allen Teilen des Vereinigten Königreichs detaillierte Vollzugssysteme etabliert wurden.

Vertikale Integration an Verbundstandorten

Diese Gesetzgebung veranlasste die junge chemische Industrie, die unerwünschten Nebenprodukte systematisch weiterzuverwenden. Das im Leblanc-Verfahren anfallende Chlorwasserstoffgas, das nun in Wasser gelöst und damit als Salzsäure aufgefangen wurde, wandelte sich in der Wahrnehmung der Industrie von einem unbedeutenden Abfallstoff zu einem der wichtigsten Ausgangsstoffe für die Produktion von Chlorgas (das später allerdings selbst zum Problem wurde).

Insgesamt entwickelte sich das, was heute als vertikale Integration bezeichnet wird: ein „vollständige[r] Kreis verketteter Reaktionen“ in dem „jedes Produkt eine Handelswaare, gleichzeitig aber wieder ein Ausgangsmaterial für ein anderes Produkt“ ist und in dem alles mit allem verwoben ist (so beschrieb es im Jahr 1893 der führende Farbstoffchemiker Otto Nikolaus Witt) [3]. Von nun an wurden die Stoffkreisläufe der Großchemie auch als eigenständige Organismen wahrgenommen [4]. Für die ungewollten Nebenprodukte, für die nun nach einer möglichst gewinnbringenden Verwendung gesucht werden musste, entwickelte sich die Bezeichnung Kuppelprodukte.

Bis heute wird an der betriebswirtschaftlichen wie technischen Perfektion dieser industriellen Organismen gefeilt. Dies geschieht vor allem an den sogenannten Verbundstandorten, den Herzkammern der chemischen Großindustrie.

[1]Brock: Viewegs Geschichte der Chemie, Berlin 2013, S. 179.
[2]So ein Bericht von 1846, zitiert bei Brock: Viewegs Geschichte der Chemie, Berlin 2013, S. 179.
[3]Witt: Die deutsche chemische Industrie in ihren Beziehungen zum Patentwesen, mit besonderer Berücksichtigung der Erfindungen aus dem Gebiete der organischen Chemie. Acht Vorträge, gehalten im Kaiserlichen Patentamt zu Berlin, Berlin 1893, S. 41.
[4]Vgl. etwa Osteroth: Soda, Teer und Schwefelsäure, Reinbek 1985, S. 48, 158.